INTERVIEW: Jim Dratwa, Cyril Blondel
Jim Dratwa und Cyril Blondel haben bereits mehrere Spiele entwickelt, sowohl allein als auch gemeinsam. Eines ihrer Herzens-Projekte, das jetzt bei HeidelBÄR Games erschienen ist, ist das Kartenspiel Anansi!
Wir hätten gerne ein richtiges Treffen mit Jim und Cyril gehabt, aber in diesen Corona-Zeiten war es notwendig, kreativer zu sein. Tatsächlich führten wir drei separate Interviews, eines mit beiden Mitgliedern des dynamischen Duos, eines nur mit Cyril und eines nur mit Jim. Jetzt präsentieren wir alle drei hier in einem zusammenhängenden Ganzen, damit ihr es lesen und ansehen könnt!
Interview sowohl mit Cyril als auch mit Jim:
- Habt ihr neben dem Entwerfen von Brettspielen noch einen anderen Beruf?
Ja, in der Tat hat jeder von uns sogar mehrere Berufe! (lachen.)
Und eine glühende Leidenschaft für Spiele und Spieldesign, Tag und Nacht! (lachen.)
- Was war eure Reaktion als ihr gehört habt, dass HeidelBÄR Games euer Spiel veröffentlichen will?
Wir haben uns sehr gefreut und sind mit dem Team von HeidelBÄR in Kontakt getreten, um ein brillantes gemeinsames Unterfangen zu beginnen!
x - Was war die Idee hinter Anansi und wie lange hat es gedauert das Spiel zu entwickeln?
In gewisser Weise dauerte es ein paar Jahre. In einem tieferen Sinn dauerte es zwei Lebenszeiten: Dies ist wirklich ein Spiel, das unsere gesamte Erfahrung integriert, von den traditionellen Kartenspielen unserer frühen Jahre bis heute.
Da wir uns beide für Spiele wie Whist, Bridge, Tarot und Belote begeistern, begann für uns die Spieleentwicklung bei der Frage: Wie würde das Kartenspiel, das uns am meisten Spaß machen würde, sein?
Lasst uns einige Kernelemente näher betrachten, um diesen Ansatz zu veranschaulichen:
Viele der besten Kartenspiele haben zu Beginn eine Bietphase und eine Phase, in der der Trumpf bestimmt wird, und das sind oft die aufregendsten und spaßigsten Momente dieser Spiele.
Aber was wäre, wenn man sich bei der Spielentwicklung ein radikal anderes und viel lustigeres Ziel setzt? Dieses Vergnügen und diese Aufregung soll man nicht nur am Anfang, sondern während des gesamten Spiels haben!
Ein weiterer Ansatz: In vielen Kartenspielen weiß man, wenn direkt man seine Kartenhand zum ersten Mal sieht: Das war’s, diese Hand ist schlecht (oder anders gesagt, von hier an geht’s es bergab). Aber was wäre, wenn man das auf den Kopf stellt? Jede neue Hand soll aufregend und herausfordernd sein, jedes Mal aufs Neue spielbar und gewinnbar!
Das sind genau die Dinge, die wir uns mit Anansi vorgenommen und auch erreicht haben.
Interview mit Cyril:
- Gibt es eine bestimmte Art Spiele, die ihr besonders liebt oder geradezu hasst?
Wenn ich an die Spiele denke, die wir spielen und entwerfen, geht es uns tatsächlich darum, das Beste aus jeder Art von Spiel herauszuholen. Von groß bis klein, von Strategiespiel bis Partyspiel. Innovative Kombinationen voller Liebe. Robby One ist ein Kommunikationsspiel, bei dem nicht gesprochen wird. Und wie wäre es mit einem Diskussionsspiel ohne zu plappern? Wie wäre es mit einem Abstimmungsspiel, bei dem die Entscheidung sowohl individuell als auch kollektiv getroffen wird, ohne wertend zu sein? Das ist unser Spiel Débats Débiles (Wahnsinnige Debatten).
Ganz in diesem Sinne ist Anansi ein Spiel, das viel Neues in das bekannte, populäre, seit langem etablierte Genre der Stichspiele bringt. - Ihr beide habt, abgesehen von Anansi, mehrere andere Spiele zusammen entworfen. Was ist eure persönliche Verbindung? Wie seid ihr beide zueinander gekommen?
Wir trafen uns auf der Ludix Convention in der Mitte Frankreichs. Es war die erste Ludix, und für uns beide war es die erste Convention für Spieleautoren. Das ist genau 10 Jahre her, und seitdem ist diese internationale Convention und der internationale Wettbewerb genauso gewachsen wie wir!Wir haben dort mehrere Male gewonnen, insbesondere 2015 mit einem gefeierten Kartenspiel-Prototypen namens Trickster. Und ja, das ist das Spiel, das jetzt unter der Schirmherrschaft des Trickster-Gottes herauskommt: Anansi!
In der Tat begann unsere Freundschaft dort vor 10 Jahren und hat sich seither immer weiter gefestigt.
Unsere letzten Spiele als Co-Autoren, die vor Anansi veröffentlicht wurden, sind Robby One und Débats Débiles, die vor etwas mehr als einem Jahr herauskamen. - Also ein Spiel über die Herausforderungen von künstlicher Intelligenz und ein Spiel über die Merkwürdigkeiten der Demokratie – heißt das euer gemeinsames Spieldesign soll zum Nachdenken über unsere Welt einladen?
Es ist eine Einladung, sich zu entspannen, zu lachen und mit anderen zusammen kreativ zu sein. Und gleichzeitig, ja, es ist eine Einladung, über unsere Welt nachzudenken. Schaut euch Jims neuestes Buch „What world do we want to live in together?“ an, das eine Fülle an Methoden anbietet, um unsere Welt neu zu überdenken und anders zu gestalten! Es handelt sich eigentlich um vier Bücher in einem Band, und der vierte Teil “We have never been human” behandelt genau diese Frage. Das Leben als eine Entdeckungsreise des Selbst, der Anderen und der Welt. Für mich geht es darum, unsere inneren Welten mit den Welten der Möglichkeiten da draußen zu verbinden.
x - Wie ist es Spiele mit Jim zu entwickeln?
Jim ist ein Universalgelehrter, ein Physiker, Philosoph und Künstler, ein engagierter Intellektueller und Professor für Philosophie und Spielwissenschaften sowie ein Aktivist für Frieden und soziale Gerechtigkeit. Bevor er Spiele entwarf, war er bereits ein preisgekrönter Bildhauer und Multimediakünstler, und so kam er nach und nach zur Spieleentwicklung, indem er zwei Spannungsfelder erforschte, zwei reflexive und kreative Forschungsansätze. Zum einen die Beziehung zwischen Kreation und Formen der Sprache, dem Geschichtenerzählen. Das heißt: eine ungebundene Poetik. Zum anderen das Verhältnis zwischen den Begriffen der „Schöpfung“ und der „Öffentlichkeit“. Das heißt: eine ungebundene Beteiligung.
Das gemeinsame Gestalten ist sehr anregend und macht viel Spaß! Wir sind beide ausgesprochen offen für unterschiedliche Perspektiven und Weltanschauungen. Wir sind beide Philosophen und veranstalten beide Philosophie-Workshops für Menschen aller Altersgruppen und auch für Kinder, die man als kollektive Gedankenexperimente oder auch „Spielsitzungen“ bezeichnen könnte. Genauso wichtig ist es, dass wir beide freudig-geekige Brettspieler sind!
Interview mit Jim:
- Kannst du es noch genießen deine eigenen Spiele zu spielen nachdem sie veröffentlicht wurden?
Ja, das kann ich, sogar sehr gerne. Tatsächlich spielen wir sie mit großer Freude und mit immer mehr Menschen. Dies gilt insbesondere für Anansi, da wir es mit genau dieser Denkweise konzipiert haben: Welches Kartenspiel wäre am spannendsten zu spielen und weiterzugeben, Spiel für Spiel!
Bei diesem Spiel geht es um Engagement und Geschichtenerzählen, um Widerstand und Belastbarkeit, um die Verbindung mit anderen, und auch als Spiel an sich ist es eine Form des Engagements und des Geschichtenerzählens. - Jim, du bist Professor für Philosophie und Spielwissenschaften und hast an der Harvard University und in Washington D.C. am Woodrow Wilson Center gelehrt. Wie wirkt sich das auf deine Aktivitäten im Bereich Spieleentwicklung aus?
Ich bin, so wie eigentlich jeder Mensch, von unterschiedlichen Identitäten und Interessen geprägt. Und tatsächlich findet viel von diesem Reichtum seinen Weg in die Spiele, die wir entwerfen.
Tatsächlich ist es meine Arbeit im Bereich der Wissenschafts- und Technologiestudien, die mich zum Global Fellow des Woodrow Wilson Center gemacht hat, und dort gibt es eine bemerkenswerte Tradition in Spieltheorie und des Spieldesigns, die sich fruchtbar mit der öffentlichen Politik verbindet. Es ist sehr inspirierend, daran teilzunehmen, und Spiele wie Moi Président und Débats Débiles (wie auch größere, noch nicht veröffentlichte Projekte) haben eindeutig davon profitiert.
Es sind also nicht nur Bücher und Konferenzen und Institutionen. Spiele sind Kultur gemacht und im Entstehen begriffen, sie werden geschaffen und sind ein Katalysator für Co-Kreation, Gesellschaftskritik, Reflexion, Emanzipation und Engagement.
x - Was sind deine Gemeinsamkeiten mit Cyril, kannst du uns etwas über ihn erzählen und wie ist es, gemeinsam Spiele zu entwerfen?
Cyril ist ein wunderbarer Mensch, Freund und Co-Autor. Wir sind gleichzeitig auf der gleichen Wellenlänge und sehr unterschiedlich, komplementär. Wir sind beide Philosophen, und wir lieben es, über Dinge zu sprechen und sie zu erleben.
Neben seiner Tätigkeit als Spieleautor hat Cyril einen Hintergrund als Ausstellungsdesigner für Museen, als Musiker und sogar als Schatzsucher. Merken Sie sich meine Worte, es ist klar, dass er der zukünftige Entdecker der berühmten Chouette d’Or, des goldenen Eulenschatzes, sein wird.
All dies kommt in unseren zahlreichen Spielentwürfen zum Ausdruck. Das gilt sowohl für unsere gemeinsamen Spiele als auch für unsere anderen Projekte. Ihr solltet euch Cyril’s neuestes Spiel Ricochet ansehen, das für mich eine Schatzsuche und ein Schatz an sich ist.
Wir haben einen sehr unterhaltsamen und umfassenden Ansatz für das Spieldesign, bei dem wir das Methodische mit dem Inspirierten (oder auch „solide Strategie und kreative Risikobereitschaft“) verbinden, bei dem wir die verschiedenen Möglichkeiten erforschen und analysieren, die interessantesten Optionen beibehalten und testen, mitgestalten und verfeinern, in enger Zusammenarbeit mit den Spielern und dann auch dem Verlag. Die Schaffung von Spielen bringt auf wunderbare Weise zum Ausdruck, was der gesamten Schöpfung innewohnt: Sie ist nicht in das einsame Heureka eingekapselt, sondern ein ausgedehntes kollektives Unterfangen.
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- Wie geht ihr die Spieleentwicklung genau an?
Sie kann von einem Gedankenexperiment oder von einer Spielsensation ausgehen, von einem anregenden Thema oder einem subtilen Mechanismus. Es ist eine Mischung, eine Begegnung, eine Vermischung. Sie kann in der Tat von generativen Verwirrungen, Spannungen oder Fragen ausgehen. Im Fall von Robby One war der Ausgangspunkt die Idee: Was würde passieren, wenn wir unter dem Spiel spielen würden? Was Anansi betrifft, nun, diese Geschichte kennt ihr ja schon!
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- Kannst du uns zum Abschluss des Interviews eine geheime Geschichte über Anansi erzählen?
Sicher, mit Vergnügen, aber meint ihr damit Anansi die legendäre Figur oder Anansi das Spiel? Nun, wissen Sie was: in dieser verwirrenden Geschichte geht es um beides!
Zunächst einmal, wie ihr wisst, basiert das Spiel auf der Geschichte… wie Anansi zu seinen Geschichten kam! In dieser symbolischen Geschichte wird Anansi, um seine Geschichten zu gewinnen, vom Himmel (dem Himmelsgott Nyame) herausgefordert, eine Reihe von uneinfangbaren Wesen herbeizuführen. Dank seiner strategischen Finesse und opportunistischen Tricks und mit der Hilfe seiner Lieben gelingt es ihm auf spektakuläre Weise, die Python, die Hornissen und den Leoparden zu fangen. Das sind in der Tat die drei im Spiel vertretenen Farben. Aber Vorsicht, hier ist der Plottwist: Wenn ihr euch die Geschichte aufmerksam anschaut, werdet ihr sehen, dass es tatsächlich ein viertes mächtiges Wesen gibt, das Anansi mitbringen soll. Dieses Wesen ist niemand anders als der verzauberte Zwerg unter dem Baum des Lebens. Wo also befindet sich der Zwerg im Spiel? Und wo ist der Baum des Lebens? Nun, hier ist der unheimliche verborgene Zauber: Sie sind in der Geschichte des Spiels enthalten. Ja, der Zwerg und der Baum des Lebens sind in der Geschichte des Spiels selbst! Der Zwerg befindet sich auf den Karten von Trickster, dem ersten Prototyp des Spiels, und der Baum des Lebens ist auf den Karten von Eternity, der ersten veröffentlichten Ausgabe des Spiels, zu finden ist. Und dies, liebe Freunde, ist die Geschichte, wie Anansi zu seinen Geschichten kam.
September, 2020.